Aus:

Greil Marcus: Im faschistischen Badezimmer, 2001, 1994

Die Mekons-Story

Ein Mann steht in einem Zimmer, das bis auf eine Matratze, ein paar Flaschen und ein paar Bücher leer ist. von seinem Fenster aus beobachtet er eine Menschenmenge, die sich vor einem imposanten, alles überragendenden Verwaltungsneubau eingefunden hat. Man weiß nicht, ob das Ganze in der Gegenwart spielt oder in einer dystopischen Nicht-Zukunft, oder ob das Geschehen angesichts der merkwürdig verschwommenen Echos, die durch die Szenerie geistern, irgendwo in der Vergangenheit angesiedelt ist. Ein Würdenträger steigt von einer Ehrentribüne herunter, um ein Band zu durchschneiden. Während die Menge nach vorn drängelt, um besser sehen zu können, gibt der Mann im Zimmer ein wehklagendes Geräusch von sich: Es ist das erstickte Nein eines Menschen, der zuviel Zeit mit Selbstgesprächen verbracht hat, eine Stimme, die nicht die geringste Hoffnung erkennen läßt, ihr könne eine Antwort beschieden sein. Die Einweihungszeremonie unter dem Fenster geht ihren Gang; während er mit dem Fuß aufstampft, um einen Rhythmus beizubehalten, droht der Mann in Hysterie abzugleiten, kann sich jedoch wieder fangen, indem sein Fluchen immerhin eine gewisse Kontur annimmt. Gedämpft schreit er die Wände seines Zimmers an, verflucht das Spektakel, mit dem er konfrontiert ist, wünscht sich, daß die Menschenmenge so etwas wie eine Gemeinschaft wäre, der er sich anschließen könnte, ungeachtet der Tatsache, daß er sich mit j eder Silbe seines abgehackten Singsangs »and we bow to re-pub-lic. . . we bow to em-ploy-er. . . we bow to God« (mit einem furchtbaren, hilflosen Haß auf das letzte Wort) - aus jeder vorstellbaren Gemeinschaft herauskatapultiert oder aus jeder vorstellbaren Kommunikation. Einen Augenblick lang verschlägt es ihm den Atem, er verliert den Boden unter den Füßen, doch dann kommt er wieder zu sich; dem Zuhörer (der sich beinahe schämt, daß er zuhört, und sich wie ein Voyeur vorkommt) wird allmählich klar, daß dieses Schreien so etwas wie ein Song ist, zumindest für den Mann im Zimmer: ein Bündel von Obsessionen, die nach einer Form suchen und die sich herausgebildet haben, seitdem der Mann mit seinem Singsang begonnen hat, Zwangsvorstellungen, an die er sich voller Verzweiflung klammert.

Der Sänger hat sich auf den Platz hinunterbegeben; er steht am Rand der Menge und lugt hinter einem Mauervorsprung des Neubaus hervor. Guck da nicht hin, sagt eine Mutter zu ihrem zehnjährigen Kind. Beschissene Suffkoppe, sagt ihr Ehemann. Der Mann schiebt sich noch weiter hinter dem Vorsprung hervor, als wolle er, daß man seine Anwesenheit registriere. Seine Stimmführung - j etzt ist sein Gesang ein Angriff auf die Öffentlichkeit, auch wenn die Öffentlichkeit keine Notiz von ihm nimmt- läßt seine Körperhaltung ahnen: Er ist darauf vorbereitet, beschimpft zu werden, und vielleicht wünscht er sich das sogar. Beschimpfung ist eine Form von Kommunikation: eine Pervertierung von Gemeinschaft, die trotzdem, auf verdrehte Weise, Gemeinschaft suggeriert, wenn alles andere versagt - die Ahnung einer Utopie für jemanden, den der höfliche Lärm der Unterdrückung beinahe zum Verstummen gebracht hat. »Little girls, lit-tle girls, we're innocent until proben guilty», wiederholt er immer wieder, und man kann nicht sagen, ob er eher wie ein Priester oder eher wie ein Kinderschänder klingt. Es gibt hier eine vage Andeutung, eine bruchstückhafte kulturelle Erinnerung an die Ranter, an jene besessenen und mitunter splitternackten Häretiker, die während des Englischen Bürgerkriegs (1642-1648) den krassesten Extremismus repräsentierten. Sie begründeten eine Tradition der absoluten Negation, eine Tradition, die von der Geschichte abgeschnitten wurde, fast bevor sie Gestalt annehmen konnte, eine Tradition, die sich seither niedergeschlagen hat in rituellen Gesten, delirierenden Flüchen und Schlagworten, die taub für ihre Ursprünge sind: »So also spricht der HERR«, verkündete der Ranter Abiezer Coppe 1649, »... Ich sage euch, ich werde umstürzen alles, was da besteht... [Ich], der ich ALLGEGENWÄRTIGE LIEBE bin und dessen Gottesdienst eine vollkommene Freiheit ist, und Zügellosigkeit ohne Ende.. .«

Wer von uns hat in den letzten Jahren nicht die eine oder andere Version der soeben geschilderten Szene verfolgen können? Ich beobachte so etwas fast jeden Morgen, vor einem Cafe in Berkeley, wo auf die Straße entlassene ehemalige Insassen von Nervenheilanstalten der biederen BohemeBourgeoisie auf die Pelle rücken, Vierteldollars schnorren, reglos dastehen, wie Maschinengewehre Worte herausstoßen, den Zorn Gottes heraufbeschwören. (Einmal verfolgte ich den Auftritt eines Mannes, der in wilder, freier Assoziation die Identität j edes bekannten Rockmusikers annahm, dessen Band beziehungsweise Vor- oder Nachname mit dem Buchstaben J begann*.) Doch während die meisten von uns einer solchen Situation lieber aus dem Weg gehen, versuchten die Mekons, eine mittlerweile aufgelöste englische Punkband aus Leeds, sie in ein Stück Musik zu verwandeln: indem sie so eine Szene aus ihrem Kontext öffentlich ausgelebter Geisteskrankheit herauslösten und mit den in ihr angelegten Möglichkeiten ihrem historischen, künstlerischen und politischen Potential - spielten. Die oben gelieferte Schilderung der Ranter auf dem öffentlichen Platz - ist bloß meine Interpretation von »The Building«: Das ist einer von zwanzig Songs auf it falleth Eike the gentle rain from heaven: The Mekons Story, 1977 1982, einem Album, das beinahe als Landkarte der verborgenen Impulse der Popmusik dienen könnte.

Die Mekons, ein lockerer Zusammenschluß von Anarchisten, Studenten und Provokateuren (um einen harten Kern aus drei oder vier Ur-Mekons kreisten im Lauf der Jahre etwa zwei Dutzend Bandmitglieder, manche länger, manche kürzer), stammten aus demselben linken Milieu der University of Leeds, aus dem später Gruppen wie die Gang of Four oder Delta 5 hervorgingen. Die Mekons formierten sich 1977, in dem Jahr, wo es so schien, als habe das Auftauchen der Sex Pistols in London (und es gab keinen zwingenderen Testamentsvollstrecker Abiezer Coppes als Johnny Rotten) sämtliche Regeln des Pop über den Haufen geworfen: alle Regeln, die den Pop als Sound definierten, und alle Regeln, die ihn als Markt definierten. 1982 lösten sie sich auf. Die Mekons waren nie sonderlich berühmt, nicht einmal in England, und in den USA sind sie bis heute praktisch unbekannt geblieben; meines Wissens traten sie nur ein einziges Mal in Amerika auf, als Vorgruppe der Gang of Four bei einem Silvester-Konzert in Manhattan. In der betrunken dahingeballten, elektronisch verfremdeten Rahmenerzählung, die die Songs und Songfragmente von The Mekons Story zu einer sich selbst erzählenden Geschichte vernüpft, bedeutet eine Formulierung wie »international erfolgreicher Nummer-eins-Hit<, daß von einem Song »irgendwie Notiz genommene wurde. An einem derart nackten Gerippe befestigt, unterscheidet sich die Geschichte der Mekons kaum von der Geschichte der tausend und abertausend Bands, die im Kielwasser der Sex Pistols auftauchten und sich daran machten, jene Freiheitsverheißungen auszuleben, die all diese Bands aus den nihilistischen Manifesten der Sex Pistols herauszuhören glaubten, aus Manifesten, die zur Zeit von »Holidays in the Sun< einen Komplexitätsgrad erreicht hatten, den die meisten ignorieren sollten Freiheitsverheißungen, die von Bands in Warschau und in Berlin, in Teaneck, New Jersey, und in Azuza, Kalifornien, dahingehend interpretiert wurden, daß sie buchstäblich alles in Aussicht stellten von massenhaft Kohle bis zur Übernahme der Staatsgewalt.

>Mein erster Artikel für die Zeitschrift Philosophien, er muß 1923 oder 1924 erschienen seine<, sagte der marxistische Soziologe Henri Lefebvre 1975, >[war] ein Dada-Porträt. Das war der Beginn einer dauerhaften Freundschaft mit Tristan Tzara... Ich hatte geschrieben: >Dada zerschmettert die Welt, doch die Scherben sind schöne... Jedesmal, wenn ich Tzara über den Weg lief, sagte er zu mir: >So ? Du sammelst die Scherben auf. Du willst sie wohl wieder zusammensetzen?< Darauf pflegte ich zu erwidern: >Nein - ich will sie endgültig zerschmettern.<< Sex-Pistols-Manager Maleolm McLaren, 1983: »Die Sex Pistols produzierten einen gigantischen Trümmerhaufen, und das war eine äußerst befriedigende Aufgabe. Das ist wie bei einem Kind, das sein Spielzeug kaputtmacht, um herauszufinden, woraus es gemacht ist. .. alles kurz und klein schlagen. . . sie waren bloß nicht in der Lage, aus diesen Trümmern etwas Neues entstehen zu lassen. [Aber] das war ja nur der Anfang.« D. H. Lawrence, in seinen Studien zur klassischen amerikanischen Literatur, 1923: »Die äußersten Ekstasen der Französischen Moderne und des Futurismus erreichen nicht jenen Gipfel extremen Bewußtseins, zu dem Poe, Melville, Hawthorne und Whitman gelangt sind. Die europäischen Modernen versuchen alle, extrem zu sein. Die großen Amerikaner, die ich hier nenne, waren einfach extreme In den letzten sieben Jahren, seit den Sex Pistols, ist das Streben nach Extremismus die Grundhaltung der meisten interessanten Rock'n'Roll-Musiker gewesen: Extremismus als Modifizierung des Rock'n'Roll-Genres und Extremismus als ein Versuch, mit den Mitteln des Rock'n'Roll in jenes Symbolsystem einzugreifen, das den Alltag des Zuhörers prägt. (Und, wenn eine Band lange genug durchhält, eine Abkehr von diesem Extremismus: wenn sie versucht, ihr Streben nach Extremismus als eine Form lukrativer Arbeit im Rahmen der Warenwirtschaft beizubehalten vielleicht ein fataler Widerspruch in sich selbst, vielleicht aber auch nicht). In einer der letzten Ausgaben von Artforum erinnerte sich Kirn Gordon, ein Mitglied der New Yorker Band Sonic Youth an die Antikunst-Pseudodarbietung, die PIL 1982 im Ritz in New York City präsentierten: Die Tatsache, daß das Publikum ausrastete (eine Neuauflage des Skandals bei der Armory Show* anläßlich der amerikanischen Premiere von Strawinskys Le Sacre du Printemps oder Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend - so jedenfalls hofften PiL), bestätigte die Überheblichkeit von Stars, die 10 Dollar Eintritt für eine Show verlangten, bei der sie bis zum Äußersten gingen und ihr Starturn mit Füßen traten, indem sie, statt dem Publikum was vorzuspielen, hinter einer Sichtblende Aufstellung nahmen: ein Manöver, das die Berliner Dadaisten Walter Mehring und George Grosz bereits zweiundsechzig Jahre früher vorexerziert hatten. Die Mekons, mit Dada so vertraut wie niemand sonst in der Welt des Punk - und das will schon einiges heißen -, traten nie hinter einer Sichtblende auf. Man könnte sagen, daß sie einfach extrem waren - daß sie die von den Sex Pistols hinterlassenen Trümmer aufsammelten, da sie diese Trümmer endgültig zerschmettern wollten.

Natürlich ist der Ausdruck »einfach« in der Welt der Kunstpraxis des zwanzigsten Jahrhunderts immer suspekt. »Kultur«, zitierte Harold Rosenberg eine Wandparole des Pariser Mai '68, bist die Umkehrung des Lebens.« Sein Kommentar: »Aber diese Formulierung ist selbst Kultur, da sie ein Erbe jener radikalen Kunstrichtungen ist, die sich vor fünfzig Jahren zu Wort meldeten.« »The Building« mag wie das Gegenteil von reflektierter, oder auch nur bewußter, Kulturproduktion anmuten - es ist so naturalistisch, daß es wie ein ein ethnologisches, vor Ort aufgenommenes Tondokument klingt (»Dokumente der Industriellen Revolution; Gott-Baumwollspinnerei, Leeds 1802; Ranter-Überlebens-Sektion«) -, doch bei diesem Stück handelt es sich keineswegs um ein erstes, unbeholfenes Stolpern der Mekons in Richtung Tiefsinn: Es wurde von Mekon Mark White aufgenommen, mit nichts als Gesang und rhythmischem Fußstampfen, im sechsten und letzten Jahr des Bestehens der Band. Die Mekons begannen ihre Karriere als eine Band, die berüchtigt war wegen ihrer Ur-Punk-Unfähigkeit, ein Ensemble von Instrumenten annehmbar klingen zu lassen: In den sechs Jahren ihres Bestehens lernten sie, diese Unfähigkeit zu kultivieren.

Das zugrundeliegende Konzept war Rock'n'Roll als »die einzige Musikform, die bei Leuten, die ihre Instrumente nicht beherrschen, in der Regel besser aufgehoben ist als bei versierten Musikern« (Rockkritikerin Mary Harron, zitiert auf dem Cover von The Mekons Story). Das von den Mekons wahrgenommene Alltagsleben Alkoholkonsum, nächtelange Auseinandersetzungen, Lohnarbeit, Eifersucht, politische Ängste, Faulheit, unterdrückte Sehnsüchte, Konsumterror, Freundschaft, Erschöpfung, Liebe, Amüsement- wurde mit Hilfe technisch anspruchsvoller Instrumente in musikalische Praxis umgesetzt: nicht nur als eine Spielart des Alltagslebens, sondern auch als Ästhetik.

Die technische Ungehobeltheit, auf der die Mekons beharrten ()>Wer nicht spielen konnte, versuchte es zu lernen, und wer spielen konnte, versuchte es zu vergessend formulierte damals ein Rockjournalist) ermöglichte den verborgenen Impulsen des. Alltagslebens, die Sonderstellung des. Künstlers zu zerstören: dazu war keine Sichtblende erforderlich. Und darüber hinaus bekräftigte die technische Ungehobeltheit das Alltagsleben als Thematik.

Diese Idee steckt hinter >Letter's in the Post<, dem kürzesten und beinahe ältesten Song auf "The Mekons Story" (>aufgenommen in einem Zimmer über dem Fenton Hotel in Leeds, 1978«). Mark White, der Interpret von >The Building<, wird auf dem Album-Cover als >Ideengeber< gewürdigt, nicht als Instrumentalist oder Sänger. Erinnern Sie sich noch an Elvis' »Return to Sender« von 1962? Ein abgewimmelter Verliebter schickt seiner Ex-Freundin einen Brief, der jedoch, da sie die Annahme verweigert, immer wieder zu ihm zurückkommt: »No such number / no such zone«. Der Song funktioniert, weil die Auftragskomponisten Otis Blackwell und Winfield Scott ein Händchen für feine textliche Nuancen (die vor Einführung der ZIP-Codes noch mögliche »Zonen«-Anspielung) und für genauso feine Popmelodien hatten. »Letter's in the Post« basiert auf der gleichen Idee hier zusammengeschmolzen auf ein Ich-hab-dir-das-geschickt-also-lies-es-gefälligst. Die Band hämmert den Song herunter; die Gitarren produzieren ein einziges großes Gekratze. Die Intensität ist sagenhaft; die vierunddreißig Sekunden des Songs scheinen Minuten zu dauern. Musik und Gesang sind dermaßen schmucklos und ungeschliffen, daß der Zuhörer gar nicht erst auf den Gedanken kommt, bei diesem Song könne es um nichts gehen; man kann sich dem Krach nicht entziehen. Jemand hat dich bei der Gurgel gepackt und redet auf dich ein. Die Straße, die die Mekons zu dem öffentlichen Platz von »The Building« geführt hat, und die Trümmer, die sie unterwegs gefunden haben, werden deutlich sichtbar. Die ersten Singles der Mekons, ebenfalls 1978 eingespielt - »Never Been in a Riot« (etwas später gerieten die Mekons dann doch in eine gewalttätige Auseinandersetzung: Neonazis überfielen die radikal-schwule Stammkneipe der Band, ein Vorfall, der auf The Mekons Story in einem Song mit dem Titel »Frustration« detailliert geschildert wird), »Where Were You« und »32 Weeks« -, waren in ihrer Roheit groteske, ungelenke Aufschreie; je nachdem ging es um die Sehnsucht nach einer politischen Situation, die Beteiligung erzeugen würde, um die Sehnsucht nach einer emotionalen Situation, die zwischenmenschlichen Kontakt erzeugen würde, und um die Anzahl von Arbeitswochen, die notwendig waren, um einen bestimmten Gebrauchsgegenstand kaufen zu können- etwa einen Kühlschrank. Es ist das Geschrei von Leuten, die die Bühne gestürmt haben, während die Band noch ihre Instrumente stimmte, eine Konfrontation im Cafe, der man nicht ausweichen kann: »Would you ever be my friend, do you like me?« Diese 45er waren bei Fast Product erschienen, einem Edinburgher Indie-Label; sie bescherten den Mekons einen Vertrag mit Virgin, einem Londoner Plattenkonzern. Dort fabrizierten die Mekons ein erfolglos-kompromißlerisches Album und wenn diese LP, The Quality of Mercy Is Not Strnen (auf dem Cover hämmert ein Schimpanse ein Shakespeare-Zitat in die Schreibmaschine) 1979 so klang, als hätten sich die Mekons von ihren Hoffnungen auf Starruhm und Publikumserfolg blenden lassen, dann klingt sie heute so, als hätte das Konzept, und nicht nur seine Realisierung, ihre Fähigkeiten überstiegen. Die Scheibe verkaufte sich nicht, und Virgin ließ die Band kurz danach fallen.

1982 produzierten die Mekons für das Indie-Label Red Rhino ein Album mit dem Titel The Mekons (auf dem Cover befand sich nichts außer einer Hochglanz-Reproduktion von Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer), das so merkwürdig und chaotisch war, daß es sich nur wenige Leute von A bis Z anhören konnten. The Mekons Story, auf dem linken CNT Label erschienen, besteht zum überwiegenden Teil aus bisher unveröffentlichtem Material; hier wird alles zusammengerührt, ohne Rücksicht auf die chronologische Reihenfolge, und es klingt wie aus einem Guß. Auf dieser Platte gibt es nichts, was als Rock'n'Roll angesehen werden könnte, insoweit dieser Begriff auf die institutionalisierte, internationale Kultur der Popmusik verweist; es gibt auf dieser Platte nichts, was im Rahmen irgendeiner anderen gegenwärtig aktuellen internationalen Popkultur verstanden werden könnte.

it falleth Eike the gentle rain from heaven (ein Titel, mit dem The Mekons Story das Zitat aus Der Kaufmann von Venedig vervollständigt, das für den Titel des Debütalbums der Mekons verballhornt wurde) geht von der Prämisse aus, daß künstlerischer Ausdruck ein Naturrecht mit keinerlei Verpflichtungen gegenüber weltgeschichtlicher Relevanz ist (>Letter's in the Post<), und durchstreift ein Terrain, in dem diese sich selbst rechtfertigende Vorstellung die Verpflichtung eingeht, herauszufinden, was man wirklich sagen will und wie man diese Dinge auf die interessanteste Weise sagen kann, und wem man sie sagen möchte. Mit anderen Worten: Künstlerischer Ausdruck verwandelt sich in Politik. Das könnte für »Bomb Train«, einem anderen Titel aus dem Jahr 1982, zutreffen: ein matschiger, unsicherer Rhythmus, im Hintergrund unverständliches Stimmengewirr, das etwa eine Minute lang anhält, bis jemand brüllt: »There's no time! Look! Over there!« Und dann fährt eine Gitarre dazwischen, wie eine Erlösung, mit Akkorden, die uns sagen: Es gibt nichts, was man dagegen tun könnte. Das ist eine perfekte künstlerische Umsetzung der Angst hinter den Warntafeln in jedem Londoner U-Bahn-Waggon - der Horrorvorstellungen, die jeder Londoner U-Bahn-Benutzer entweder mit sich herumschleppen oder verdrängen muß, als einen ganz normalen Bestandteil seines Alltags.

Die Mekons begannen mit Slogans (mit dem Punk-Schlachtruf von 1976, der sich gegen die Knebelung durch den Starkult der Rockmusik wandte: »So was kann jeder machen!«) und entwickelten sich zu so etwas wie Poesie: »Little girls, little girls, inno-cent until proben guilty.«

Wenn Mekon David Speneer die Rahmenerzählung von The Mekons Story vorträgt (Auszüge aus dem Vertrag, den die Band mit Virgin abgeschlossen hatte, Einzelheiten über den Vorschuß für das nie in Angriff genommene dritte Virgin-Album, Kommentare zum kanadischen Recht), dann klingt er wie ein alter Mann, der in die Nacht hinauskichert: Was für Idioten sind wir doch gewesen ! (Und was für Idioten müssen die erst gewesen sein, daß sie überhaupt auf uns gesetzt haben !) Im Anschluß an den letzten Song des Albums spricht Speneer sein Schlußwort (»Die Mekons... warfen schließlich das Handtuch...«) und er scheint so weit entrückt, die Alkoholschwaden scheinen so dicht zu sein, daß man sich fragt, ob diese Band jemals existiert hat. und vor diesem Hintergrund fragt man sich auch, ob all die Ulksongs und Doo-wop-Nummern der fünfziger Jahre, die dem Rock'n'Roll erst seine Ausdruckskraft verliehen haben, jemals existiert haben denn ihre Existenz würde nahelegen, daß sie letztendlich etwas so Sonderbares wie »The Building< zur Welt gebracht haben: ein Stück Musik, das auf seine Art viel, viel älter ist als der Rock'n'Roll. Und trotzdem haben sie das gemacht; und das liegt erst ein Jahr zurück.

Threepenny Revier,

Sommer 1983


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